INTERVIEW ZUR SERIE SUSTAINABILITY AN DEN FINANZMÄRKTEN (7): JULIE BECKER, LUXEMBURGER GRÜNE BÖRSE

„Ein grünes Projekt allein reicht eben nicht mehr aus“

Börsenchefin über das Erfordernis von Ausbildung in Sachen Nachhaltigkeit, Standardisierung von ESG-Daten und das Verhindern von Greenwashing-Skandalen

Artikel Interview

Frau Becker, welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie auf die Luxemburger Grüne Börse – Luxembourg Green Exchange, LGX – gezeigt?

Julie BeckerDie Covid-19-Pandemie beschleunigte den Fokus auf Nachhaltigkeit und brachte insbesondere das S in ESG, das heißt die soziale Dimension, in den Mittelpunkt. Es hat ein neues Gefühl der Dringlichkeit und ein neues Bewusstsein geschaffen, dass wir jetzt handeln müssen, um globale Herausforderungen wie den Klimawandel und soziale Ungleichheit anzugehen. Im Jahr 2020 gab es weltweit ein Rekordniveau bei den Neuemissionen entsprechender Anleihen, was zum großen Teil auf den starken Anstieg der Social und Sustainability Bonds zurückzuführen war. Dieser Emissionsanstieg nachhaltiger Wertpapiere spiegelte sich auch an der Luxembourg Green Exchange wider. Allein im Jahr 2020 haben wir neue grüne, soziale und nachhaltige Bonds über 186 Mrd. Euro an der LGX gelistet, was einer Steigerung von 134 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Bezogen auf die Anzahl der neuen nachhaltigen Anleihen waren es voriges Jahr 407 neue Wertpapiere – ein Plus von mehr als 50 % gegenüber 2019. Dies zeigt, was für ein wichtiges Jahr 2020 für Sustainable Finance war.

Gibt es noch weitere Aspekte?

Ein weiterer Punkt ist die strategische Bedeutung des Zugangs zu aussagekräftigen, zuverlässigen und vergleichbaren Nachhaltigkeitsdaten. Insbesondere Anleger und Vermögensverwalter benötigen Zugriff auf solche Datensätze, um nachhaltige Anlagestrategien zu entwickeln, geltende Vorschriften und Standards einzuhalten und über diese Anlagen Bericht zu erstatten. Um dieser Datenherausforderung zu begegnen, haben wir im September 2020 den LGX Data Hub eingerichtet. Dies ist eine Datenbank mit strukturierten Nachhaltigkeitsdaten zu mehr als 3 000 nachhaltigen Anleihen von 800 Emittenten, die nahezu das gesamte Universum börsennotierter nachhaltiger Schuldtitel weltweit abdeckt. Mit bis zu 150 Datenpunkten pro Wertpapier ist es die umfassendste Quelle für Nachhaltigkeitsdaten auf dem Markt und ermöglicht Anlegern und Vermögensverwaltern, die sozialen und ökologischen Auswirkungen verschiedener Anlageoptionen zu verstehen und zu vergleichen.

Die Pandemie hat das Thema Grün, Social und Nachhaltigkeit bei Emittenten und Investoren weit oben auf der Tagesordnung positioniert. Wir haben Rekorde gebrochen und Meilensteine gesetzt. Glauben Sie, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzt?

Ohne Zweifel! Wir sind davon überzeugt, dass die nachhaltige Finanzierung zunimmt und Finanzierungen eines Tages standardmäßig nachhaltig sein werden. Der Investorenappetit auf nachhaltige Instrumente ist sehr groß. Das zeigte sich am Beispiel der EU-Sure-Sozialanleihen, die von der Europäischen Kommission seit Oktober 2020 zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa emittiert werden. Der erste Social Bond der EU war 13-fach überzeichnet. Die enorme Nachfrage der Anleger nach nachhaltigen Schuldtiteln wird hoffentlich andere Emittenten ermutigen, nachhaltige Produkte zu emittieren. Heutzutage besteht noch ein klarer Angebotsmangel an nachhaltigen Finanzprodukten. Anleger dagegen berücksichtigen immer mehr die allgemeine Nachhaltigkeitsstrategie oder das ESG-Profil des Emittenten, wenn sie entscheiden, wo sie ihr Geld anlegen. Viele Unternehmen, die in kohlenstoffarmen Industrien wie erneuerbaren Energien, kohlenstoffarmen Transporten oder nachhaltiger Landnutzung tätig sind, wirken sich positiv auf die Umwelt aus, geben jedoch nicht unbedingt Green Bonds aus. Hier sehen wir großes Wachstumspotenzial.

Was sind die größten Herausforderungen für dieses Marktsegment?

Auch wenn wir insbesondere im vergangenen Jahr eine Reihe sehr positiver Entwicklungen gesehen haben, sind noch viele Hürden zu nehmen. Ein Aspekt ist der Zugang zu Bildung und Daten in diesem Bereich. Das Problem besteht heute darin, dass viele Nachhaltigkeitsdaten vorhanden sind, diese jedoch auf mehrere Quellen verteilt und in unterschiedlichen Formaten unter Verwendung unterschiedlicher Metrics dargestellt werden. Das Sammeln, Strukturieren und Vergleichen dieser Daten ist eine außergewöhnliche Aufgabe für Vermögensverwalter und Investoren.

Gibt es noch andere Punkte?

Wenn wir über Standardisierung sprechen, besteht eine weitere Herausforderung darin, dass es noch keinen international anerkannten universellen Standard zur Definition von Nachhaltigkeit oder ein Regelwerk zur Messung und Berichterstattung über die ESG-Leistung gibt. Um diesem Standardisierungsbedarf gerecht zu werden, wurden verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, beispielsweise die Taskforce für klimabezogene Finanzangaben oder das Netzwerk von Zentralbanken und Aufsichtsbehörden zur Ökologisierung des Finanzsystems. Dies ist vielversprechend. Im vergangenen Jahr hat eine neue Art von thematischen Anleihen an Bedeutung gewonnen, nämlich die nachhaltigkeitsgebundenen Anleihen. Diese Finanzinstrumente unterscheiden sich von grünen, sozialen und nachhaltigen Anleihen darin, dass sie kein bestimmtes grünes oder soziales Projekt finanzieren, sondern auf zukünftigen Nachhaltigkeitsergebnissen basieren und den Übergang des Emittenten zu einem nachhaltigeren Geschäftsmodell finanzieren.

Wie groß ist heutzutage das Risiko eines Greenwashing-Skandals angesichts der Tatsache, dass immer mehr Investmentfirmen sich der Welle grüner und nachhaltiger Investitionsmöglichkeiten anschließen wollen? Wie können Anleger erkennen, wenn es sich nur um eine „grüne Kommunikation“ handelt?

Der beste Weg, um Risiken des Greenwashing zu vermeiden, sind Transparenz und Daten. Wenn wir zum Beispiel Anleihen mit einem entsprechenden Label betrachten, verpflichten sich die Emittenten, einen bestimmten Prozess zu respektieren, einen soliden Rahmen zu schaffen und diesen von einer externen Partei überprüfen zu lassen. Ebenso wichtig ist, dass sich Emittenten thematischer Anleihen zu einer fortlaufenden Berichterstattung nach der Emission verpflichten, damit Anleger überprüfen können, ob sie ihre Versprechen hinsichtlich der Mittelverwendung einhalten. Angesichts der umfangreichen Dokumentation, die vor der Emission zur Verfügung gestellt wurde, und der regelmäßigen Berichterstattung nach der Emission sowie der externen Überprüfung ist das Risiko von Greenwashing bei börsennotierten, nachhaltigen Schuldtiteln äußerst gering. Die Art des Greenwashing, das wir heute sehen, hängt eher mit den Marketingbemühungen einiger Unternehmen zusammen, die versuchen, sich als nachhaltige Unternehmen zu positionieren, ohne ihren Worten Taten folgen zu lassen. Dies ist angesichts des Fokus auf Nachhaltigkeit vielleicht unvermeidlich.

Was unternimmt die LGX, um Skandale eines Greenwashing zu vermeiden oder dieses Risiko zu verringern?

Als die LGX 2016 gegründet wurde, beschlossen wir, über die bewährten Marktpraktiken hinauszugehen, um die Integrität der von uns gelisteten Wertpapiere sicherzustellen. Wir wussten, dass wir ein Risiko eingehen, da wir das richtige Gleichgewicht finden mussten zwischen der Gewährleistung der Transparenz der Produkte und dem Ausschluss bestimmter Emittenten. Dies geschah auf der Basis strenger Zulassungskriterien. Beispielsweise sind wir die erste Börse, die Berichte nach der Emission auf der LGX seit Beginn obligatorisch machte. Alle an der LGX gelisteten nachhaltigen Wertpapiere sind gemäß international anerkannten Standards wie den Green Bond Principles, den Social Bond Principles, den Sustainability Bond Guidelines und den Sustainability Linked Bond Principles der International Capital Market Association – ICMA – emittiert worden.

Welchen Rat geben Sie Vermögensverwaltern, wenn sie umweltfreundliche und nachhaltige Produkte glaubwürdig anbieten möchten?

Ich möchte sie ermutigen, die Transparenz an erster Stelle zu positionieren und sicherzustellen, dass sie und die Investoren über alle Informationen verfügen, die sie benötigen, um fundierte Anlageentscheidungen zu treffen und gemäß den neuen Offenlegungspflichten zu berichten. Wenn die Vermögensverwalter noch kein umfassendes Verständnis für die Prinzipien, Produkte und Marktpraktiken nachhaltiger Finanzierungen erworben haben, würde ich ihnen raten, diesen Punkt eher früher als später anzusprechen. Ein weiterer Punkt ist der Zugang zu aussagekräftigen und vergleichbaren Nachhaltigkeitsdaten. Assetmanager sollten sicherstellen, dass sie über eine zuverlässige Datenquelle verfügen.

Wie wichtig ist die Devise „Practice what you preach“ für Emittenten, Unternehmen, Institutionen, Vermögensverwalter et cetera heute, um grünes Kapital von Investoren zu gewinnen, insbesondere angesichts der Erfahrungen dieser Krise?

Dies ist ein äußerst wichtiger Punkt. Anleger benötigen jetzt zusätzlich zu den rein finanziellen Datensätzen nichtfinanzielle Daten, wenn sie eine Investition in Betracht ziehen. Dies zeigt, dass das ESG-Profil eines Unternehmens immer wichtiger wird. Emittenten und Unternehmen, die Refinanzierungen am Bondmarkt vornehmen, müssen ESG-Aspekte berücksichtigen und ehrgeizige Nachhaltigkeitsstrategien entwickeln. Irgendwann kann der Zugang zu den Kapitalmärkten sogar durch das ESG-Profil der Emittenten bedingt sein. Um die globalen Ziele zu erreichen, müssen alle Sektoren und Unternehmen ihren Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft beschleunigen. Dies ist ein enormes und kollektives Unterfangen, und diejenigen, die auf der Strecke zurückbleiben, werden sowohl von Investoren als auch von Verbrauchern bestraft. Ein grünes Projekt allein reicht eben nicht mehr aus. Investoren wenden sich an Unternehmen, die ehrgeizige Nachhaltigkeitsstrategien verfolgen und echte und messbare Maßnahmen ergreifen, um nachhaltiger zu werden.

Wo möchten Sie in zwei Jahren mit der LGX sein? Was sind die nächsten Meilensteine?

Wir denken ständig darüber nach, was wir tun können, um die Agenda für nachhaltige Finanzen voranzutreiben und den Marktanforderungen gerecht zu werden. Wir gehen davon aus, dass es auf dem ESG-Gebiet viel zu tun gibt, aufgrund von schnellen Marktentwicklungen, verändertem Anlegerverhalten, neuen Vorschriften und neuen Verbrauchertrends. Viele Unternehmen möchten ihren Übergang zu mehr Nachhaltigkeit beginnen und über ihre diesbezüglichen Projekte berichten, verfügen jedoch heute nicht über die Tools oder das Wissen. Dies ist ein Bereich, den wir genau beobachten. Schließlich möchten wir zu neuen Marktentwicklungen beitragen, insbesondere zu solchen, welche die Übergangsfinanzierung unterstützen.


Die kostenlose Veröffentlichung dieser Artikel aus der Börsen-Zeitung wird ermöglicht durch: